Gerechte und ökologische Landwirtschaft wird von den Schultern vieler Menschen getragen

Gemeinsamer Ernteeinsatz auf einer solidarischen Landwirtschaftsfläche.

Gutes Essen für alle – lokal. bio. vielfältig.

Zukunftswerkstatt zum Thema Ernährung und Landwirtschaft

Von Nina Treu

24.02.2020

Für unsere Vision für das Jahr 2048 ist zentral, was Menschen essen und wo das Essen herkommt. Diesen Fragen gingen im Winter 2019 knapp 20 Vordenker*innen aus den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung auf den Grund. Sie kamen aus Praxis, Bewegung, zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Wissenschaft. Getroffen haben wir uns in der Kommune Waltershausen in Erfurt, die neben mehreren Häusern – einer ehemaligen Puppenfabrik – über eine große Gartenanlage verfügt, in der auch Essen angebaut wird.

Im Jahr 2048 gibt es: gutes Essen für alle, lokale Wertschöpfung, eine Vielfalt an Produktionsbetrieben, Kreislaufwirtschaft.

Im Jahr 2048 gibt es nicht mehr: Profite, Dumpinglöhne, eine umweltzerstörende Landwirtschaft.

Unsere Vision

Gutes Essen für alle

Zentraler Punkt der Vision ist, dass 2048 alle genug Essen haben, und zwar gutes Essen. Die menschliche Ernährung ist gesund und nachhaltig (s. EAT Lancet Studie). Es gibt kein einheitliches Essen für alle, sondern ganz viele verschiedene Lebensmittel und Gerichte, die kulturell selbstbestimmt gewählt werden. Der Proteinbedarf wird vor allem durch pflanzliches Eiweiß gedeckt, der verbleibende viel geringere Konsum von Fleisch oder anderen tierischen Produkten und damit die Tierhaltung gehen kontinuierlich zurück. Die Profit- und Effizienzlogik beim Essen ist überwunden: alle haben Zugang zu Lebensmitteln und nehmen sich Zeit für Essen. Lokale Versorgungsmöglichkeiten erleichtern dies, z.B. Gemeinschaftsküchen in Häusern, Lebensmittelpunkte in Quartieren und kollektive Versorgungen in Schulen und Betrieben. Städte und Dörfer sind essbare Orte, überall werden Lebensmittel angebaut und geerntet. Wir haben verstanden, dass Essen unser Leben bereichert und feiern das.

Vielfältige Produktion

Das jetzige Landwirtschaftssystem beutet die Böden und viele Bäuer*innen aus. Gelder fließen viel zu häufig in Großbetriebe anstatt kleinbäuerliche, lokale, nachhaltige Produktion zu unterstützen. Im Jahr 2048 hat sich das komplett geändert. Es gibt keine Profitorientierung mehr, dafür aber eine Vielfalt landwirtschaftlicher Betriebsformen. Hier arbeiten mehr Menschen, dafür mit mehr Zeit und mehr Kontakt zu ihren Abnehmer*innen. Eine radikale Umverteilung von Boden und Kapital hat zu einem neuen Prinzip der Allmende geführt: es gibt kein Privateigentum an Boden mehr. Außerdem wird jedes Zwischenprodukt und jeder einstige Abfall als Ressource verstanden, womit eine Kreislaufwirtschaft ermöglicht wird.

Spezialisierte aber relokalisierte Verteilung

Im Bereich der Verteilung und des Vertriebs gibt es weiterhin eine große Arbeitsteilung und Spezialisierung mit viel Know-how. Gleichzeitig reisen Produkte zwischen Acker und Teller nicht mehr einmal (oder mehrmals) um den Globus. Stattdessen werden Verarbeitung und Verteilung lokal organisiert. Überall gibt es kleinere Bäckereien, Metzgereien, Mühlen, Molkereien und ähnliches. Das Sortiment in den genossenschaftlichen Läden ist kleiner, aber qualitativ hochwertiger. Kinder und Jugendliche lernen früh, mit Lebensmitteln zu arbeiten und erlangen damit einen selbstverständlichen Bezug zu diesen. Dadurch steigt auch ihr Interesse, in diesem Bereich tätig zu werden.

Mit Hilfe von verständlicher Technik

Technik wird 2048 noch dort eingesetzt, wo sie schwere körperliche Arbeit erleichtert oder die Qualität des Produkts erhöht. Das heißt auch, dass Verarbeitungstechnik an den Rohstoff angepasst wird, nicht der Rohstoff an die Technik. Die eingesetzte Technik ist auf ihren Einsatz angepasst, verständlich und reparierbar. Lowtech-Lösungen sind populär und werden genutzt (z.B. Kon-Tiki). Durch eine partizipative, praxisnahe Forschung wird Technikentwicklung an den Bedürfnissen derer, die sie einsetzen, orientiert. Dort, wo nötig und gewünscht, gibt es dadurch eine effektive Mechanisierung und Digitalisierung.

Demosntration für Gutes Essen

“Wir haben es satt!”-Demonastration, 2019. Foto: Stefan Müller

Und der Weg dahin?

Zu dieser Vision ist es noch ein weiter Weg. Klar ist, dass kein einzelner Gesellschaftsbereich wie die Landwirtschaft alleine auf diese Art umgebaut werden kann – um Profitorientierung und Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen und eine umfassende Demokratisierung zu ermöglichen, brauchen wir eine große Transformation. Hier ein paar Ideen, was im Bereich Essen passieren könnte.

Umbruchsmomente nutzen

Durch den Klimawandel verändern sich die Bedingungen, unter denen Landwirtschaft betrieben wird. Im Sommer 2019 wurde in Deutschland sehr breit über die Ernteeinbrüche durch Hitze, Trockenheit, Starkwetterereignisse und Verschiebung der Niederschläge diskutiert. Dass die Folgen des Klimawandels auch hierzulande deutlicher spür- und sichtbar werden, führt zu einem Umdenken in Bevölkerung und Politik. Die große Abhängigkeit von Importen, die Verteuerung der Lebensmittel und mögliche Nahrungsmittelknappheit bringen eine größere Offenheit für neue, nachhaltige und solidarische Lebensmittelkonzepte. Die Suche nach einer ganzheitlichen Lebensmittelpolitik, welche die Bedürfnisse von Bäuer*innen und Abnehmer*innen sowie die umweltpolitischen Notwendigkeiten berücksichtigt, rückt in den Mittelpunkt.

Neue Zusammenschlüsse

Im Januar 2020 fanden die Proteste anlässlich der grünen Woche von konventionellen und ökologischen Bäuer*innen und politischen Akteuren noch getrennt statt: Freitag „Land schafft Verbindung“, Samstag „Wir haben es Satt“. In den folgenden Jahren stellen die Protestbewegungen aber fest, dass ihre Konfliktpunkte gegenüber ihren gemeinsamen Anliegen in den Hintergrund rücken. Letztlich geht es allen um eine zukunftsfähige Landwirtschaft, die niemanden überfordert und zum Wohle von Mensch und Natur ist. Die Bewegungen schließen sich zusammen, und weil sie immer größer werden, tragen sie den Protest sowohl auf dem Land als auch in der Stadt an verschiedene Orte. Sie verbinden sich darüber hinaus beispielsweise mit der Klimagerechtigkeitsbewegung, mit Pflegearbeiter*innen und mit der (queer-)feministischen Bewegung. Dadurch entsteht in ganz Europa eine food justice-Bewegung.

Gutes Essen selber machen, ganz lokal

Bäuer*innen auf einem Feld auf Java, Indonesien, 2007. Foto: Patrik M. Loeff.

Viele bunte und lebensnahe Aktionen

Da es um Essen geht und dazu eigentlich jede*r einen Zugang hat, setzen die verschiedenen Gruppen neben Demos auf viele verschiedene Aktionen, die in zahlreichen gemeinsamen Strategietreffen entwickelt werden. Es gibt zum Beispiel Schnippeldiskos, politische Suppentöpfe, Agrikulturfestivals sowie Brotzeiten mit mehreren Tausend Bäcker*innen, Bäuer*innen und Saatguthersteller*innen. Durch Exkursionen zu Pionier*innen, die schon früh alternative Landwirtschaft betreiben, u.a. mit Recyclingdüngern aus regionalen Wertschöpfungsketten, werden deren Ansätze bekannter. Genossenschaftliche Food Hubs und Lebensmittelläden sowie Solidarische Landwirtschaft wird sichtbarer und kopiert. Darüber hinaus werden Aktionen des zivilen Ungehorsams ausgeweitet, z.B. an Futtermittelhäfen, Tierfabriken oder bei besonders dreckigen Herstellern.

Selbstorganisierung

Durch Methoden des „transformative community organizing“ steigen immer mehr Bäuer*innen in die politische Arbeit ein. Sie organisieren sich selbst und entwickeln eigene Strukturen, wie gemeinschaftliche Hofläden und Wochenmärkte. Parallel dazu werden neue Verarbeitungsketten aufgebaut. Angestellte übernehmen mit Hilfe von Gewerkschaften und Kollektivberatungen ihre Supermärkte und verwandeln diese in Genossenschaftsläden mit regionalen Produkten.

Ein (Aus-)Bildungssystem, das Menschen für Landwirtschaft begeistert und befähigt

Dazu wird einerseits das bestehende (Aus-)Bildungssystem erweitert und umgebaut, andererseits werden die Inhalte darin verändert. Weiterbildungs- und Beratungszentren und kollegiale Beratung in Netzwerken à la Slow Food Youth Akademie werden ausgebaut. Darin werden systemische Zusammenhänge gelehrt und ganze Wertschöpfungsketten betrachtet. An Unis werden Studiengänge zu Ernährungspolitik und pluraler Agrarökonomie aufgebaut, während die Wirtschaftswissenschaften sozial-ökologisch-demokratisch ausgerichtet werden. Der Lohn für Auszubildende wird erhöht, um die Arbeit in der Landwirtschaft attraktiver zu machen.

Verschiebung der Kräfteverhältnisse

Die breite Masse an neuen Akteur*innen und starken Bündnissen baut Druck auf Politik und Forschung auf. Auch innerhalb des Bauernverbandes gibt es Machtverschiebungen, wodurch dieser seine konservative Haltung überwindet und eine progressive Lebensmittelpolitik für alle entwickelt. 2025 gibt es erstmals eine*n Ernährungsminister*in aus der Lebensmittelproduktion, die für bäuerliche und biologische Landwirtschaft steht, statt eines Agrarministers von der CSU. Der Zwang zur Mitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer für alle Unternehmen wird aufgehoben, wodurch sich solidarisch wirtschaftende Betriebe in neuen Verbänden zusammenschließen können.

Ökologische Landwirtschaft: Bauer mit Schubkarre auf dem Feld

Bauer auf einer Solawi arbeitet auf dem Feld. Foto: Cornelia Kopp

Politischer Umbau

Die Veränderungen kommen auch im politischen System an. Gemeinde und Städte steigen daher stärker in die Förderung alternativer Landwirtschaft ein. Durch Zugang zu Land, Förderung, Beratung und Netzwerke erleichtern sie die Einstiegsmöglichkeit in die Landwirtschaft. Kommunen bieten brachliegende Räume und Flächen zur Nutzung für sozial-ökologische Akteur*innen an und legen Vorkaufsrechte für kleinere Betriebe fest. All diese Maßnahmen werden von immer mehr Ernährungsräten begleitet und vorangetrieben.

Die Förderpolitik inklusive der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) wird verändert und an kleinbäuerlicher biologischer Landwirtschaft ausgerichtet. Auch regenerative Landwirtschaft, Agrarökologie und Agroforstsysteme werden explizit berücksichtigt. Die Subventionen für umweltschädliche Landwirtschaft werden gestrichen.

Neoliberale Handelsabkommen werden zu solidarischen umgebaut. Durch den Austritt mächtiger Länder wie Deutschland aus der Welthandelsorganisation (WTO) wird diese komplett obsolet und abgewickelt. Handelsfragen werden wieder in die UNO eingebettet, welche demokratisiert wird. Parallel werden von unten neue supranationale und transnationale Bündnisse aufgebaut.

Bäuer*innen als Held*innen in den Medien

All diese Entwicklungen werden durch eine positive, aber konstruktiv-kritische Darstellung in den Medien unterstützt. Dienstleistungen von Bäuer*innen für Mensch und Natur jenseits des Lebensmittelanbaus, z.B. die Bewahrung biologischer Vielfalt und der Aufbau von Humus, auch für die CO2-Bindung, werden wertgeschätzt. Es gibt mehr Geschichten, Podcasts und Videos zum Alltag von Bäuer*innen. Durch neue Genres wie Superheld*innen-Serien über Bäuer*innen gegen das Böse oder Science-Fiction-Filmen, in denen Dörfer ultramodern sind, wird das Bild der konservativen Bauernschaft überholt. Das schiebt eine große Transformation in der Ernährung an. Es gilt: eine zukunftsfähige Landwirtschaft werden wir nur gemeinsam aufbauen – denn Essen geht alle an.

 

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