Reproduktive Gerechtigkeit Titelbild

Illustration: Sandra Riedel

Selbstbestimmung für alle!

Ein Expert*innengespräch über sexuelle Vielfalt und reproduktive Gerechtigkeit.

Von Kate Čabanová und Charlotte Hitzfelder

 

02.12.2021
In der Zukunft zählt jedes Menschenleben gleich. Alle Menschen, egal welcher Herkunft, Klasse und Geschlecht haben die gleichen, legalen Rechte und kostenlosen Zugänge auf Selbstbestimmung und damit die freie Entscheidung über ihre Körper.

Im Jahr 2048 gibt es: ein Recht auf sicheren, selbstbestimmten, kostenlosen Zugang zu Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen für alle Menschen, kostenlose Verhütungsmittel, vielfältige sexuelle Bildung und viele verschiedene Familienmodelle.

Im Jahr 2048 gibt es nicht mehr: Informationseinschränkungen bezüglich medizinischer Eingriffe, Grenzen, Entwicklungshilfe und Bevölkerungspolitik – die ( getarnt als Klimaschutz) auf Kosten der Selbstbestimmung von Frauen und Queers im globalen Süden gehen. Es gibt keine Stigmata und gesellschaftlichen Zuschreibungen mehr, wer ein Kind oder kein Kind bekommt und wie Familie aussehen soll.

Reproduktive Gerechtigkeit ist ein Konzept, das Schwarze Frauen aus den USA 1994 entwickelt haben, in dem die Erfahrungen, das Wissen und die Analysen aus ihren Kämpfen um soziale Gerechtigkeit und um reproduktive Rechte zusammen fließen. Um schwanger werden zu können, brauchen Menschen eine umfassende Gesundheitsversorgung, ausreichend Wissen, Geld, einen gesetzlichen Rahmen und Schutz im Sinne von Unterkunft und Verpflegung. Exakt das gleiche gilt für Menschen, die abtreiben wollen. Die Frage nach Selbstbestimmung kann also nicht ohne die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen diskutiert werden.

Insbesondere marginalisierte Personen erfahren Diskriminierungen auf mehreren Ebenen. So hat zum Beispiel eine weiße Frau in Deutschland einen besseren Zugang zu einer selbstbestimmten Abtreibung, als eine migrierte, Schwarze Frau mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Ein Transmann wird mit seinem Wunsch nach einem Kind durch das Gesundheitssystem, das Rechtssystem und die Gesellschaft erheblich stigmatisiert. Insgesamt erschweren eine Reihe von Faktoren die Möglichkeit auf eine selbstbestimmte Entscheidung über den eigenen Körper, wie zum Beispiel ökonomische Verhältnisse, Migration, Klimawandel, Geschlecht oder Behinderung.

Mit Reproduktiven Rechten werden in erster Linie Kämpfe um das Recht auf einen sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch (vgl. pro choice Kämpfe) assoziiert, – ein zwar wichtiges aber vor allem durch weiße Feminist*innen geprägtes Anliegen. Das Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit basiert zusätzlich auf zwei weiteren Grundsätzen: erstens das Recht sich für Kinder zu entscheiden und die dafür nötige Unterstützung zu bekommen und zweitens das Recht Kinder in selbst gewählten Umständen großzuziehen.

Pionier*innen auf dem Gebiet sind die Mitglieder des „SisterSong – Women of Color Reproductive Justice Collectiv“, welches sich in den 90er Jahren in Nordamerika gegründet hat. Heute arbeiten weltweit viele Netzwerke und Organisationen von Frauen und Queers of Color in dem Bereich Reproduktive Gerechtigkeit. Einige ihrer Perspektiven haben wir in diesem Blogbeitrag zusammentragen.

Unsere Vision

Im Jahr 2048 leben wir in einer Welt voller Freude, Genuss, körperlicher Autonomie, Integrität und Freiheit. Wir haben eine neue Grundlage für die nächsten Generationen geschaffen, die ein würdevolles Leben in vielfältigen Familienmodellen mit oder ohne Kinder ermöglichen. Die dafür nötigen Ressourcen sind gerecht verteilt. Das System globaler reproduktiver Gerechtigkeit wird von einem starken globalen Netzwerk aus breiten queerfeministischen Allianzen getragen, die gemeinsam gesellschaftspolitische Analysen und Forderungen erarbeiten. Insbesondere marginalisierte Personen aus dem globalen Süden werden gehört und sind integraler Bestandteil von Bewegungsarbeit und Analysen auf internationaler Ebene.

Ethische Fragen rund um Reproduktionsmedizin werden auf Grundlage wissenschaftlicher Fakten und unter Beteiligung aller Interessensgruppen an Runden Tischen diskutiert. Die lokalen Bewegungsakteure erstreiten Gesetzesänderungen bei den Regierungen und erarbeiten Vorlagen für neue Gesetze. Diese gewährleisten reproduktive Gesundheitsleistungen. Selbstbestimmung wird zur neuen Grundlage für körperliche Autonomie für alle Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, sozialen Status und sexueller Orientierung. Die alten diskriminierenden und menschenrechtsverletzenden Gesetze sind weltweit abgeschafft.

Die neue Gesetzeslage ermöglicht die rechtliche Sicherstellung von vielfältigen Familienmodellen. Das heißt, die Elternschaft kann auch auf mehrere Personen aufgeteilt werden. Trans*Elternschaft und Solo-Elternschaft sind rechtlich möglich und dem Modell der heteronormativen Kleinfamilie gleichgestellt. Die Pflegeschafts- und Adoptionsverfahren sind frei von Diskriminierung. Dazu gehört auch die selbst gewählte Wohnform (siehe das Kapitel zu Wohnen) und gerechtere Verteilung von (Care-)Arbeit (siehe das Kapitel zu Arbeit und soziale Garantien). Ebenso ist Familiennachzug und Bewegungsfreiheit für alle rechtlich sichergestellt (siehe das Kapitel zu Bewegungsfreiheit).

Die neue rechtliche Grundlage und das gestärkte globale Netzwerk, das sich für reproduktive Gerechtigkeit weltweit einsetzt, ermöglichen uns freie Entscheidungen über die Gestaltung unserer Körper, Familien und Gemeinschaften zu treffen. Wir sind in der Lage diese Entscheidungen unabhängig von finanziellen und existenziellen Fragen, gesellschaftlichen Normen und restriktiven Gesetzen zu treffen. Wir wagen es, uns ganz intim zu fragen: „Was will ich für mich und meinen Körper?“. Wir sind sicher, egal, wie wir uns entscheiden, dass wir genug Unterstützung bekommen. Wir sind sicher, dass in unserer Gemeinschaft Sorgearbeiten zusammenzgetragen werden.

Das gesamte Gesundheitssystem wurde transformiert, um gleichwertige medizinische Versorgung für alle zu gewährleisten. Die selbstverwalteten Gesundheitshäuser (früher Krankenhäuser) bieten eine selbstbestimmte und kostenlose medizinische Versorgung für alle (siehe das Kapitel zu Gesundheit). Dies bedeutet im Hinblick auf reproduktive Gerechtigkeit einen selbstbestimmten, kostenlosen und informierten Zugang sowohl zu Schwangerschaftsabbrüchen und Verhütungsmitteln, als auch zu assistierter Reproduktion für alle Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, sozialem Status und sexueller Orientierung.

Auch die Ausbildung von Ärzt*innen und dem gesamten Gesundheitspersonal wurde grundlegend umgebaut. In Bezug auf reproduktive Rechte wird viel mehr über Verhütungsmöglichkeiten und Schwangerschaftsabbrüche gelehrt. Für ausgebildete Gynäkolog*innen ist ein Schwangerschaftsabbruch gleichwertig neben allen anderen medizinischen Eingriffen. Ungewollte Sterilisationen und geschlechtsangleichende Operationen sind verboten. Um eine gute Grundversorgung für alle weltweit zu gewährleisten, werden medizinisches Wissen und Forschungsergebnisse global geteilt.

Plakate zum Thema Feminismus in einer Ausstellung

Und der Weg dahin?

Bis zum Recht auf Selbstbestimmung und freie Entscheidung über den eigenen Körper ist es noch ein weiter Weg. Aber die Weichen für die Zukunft werden heute schon gestellt. Hier ein paar Ideen, wie sich die Gesellschaft verändern könnte:

Krisen nutzen: die COVID-Pandemie fördert die Sichtbarkeit vielfältiger Familienmodelle

Das traditionelle Familienmodell bestehend aus Vater, Mutter und Kind(ern) kommt bereits seit Jahren, aber insbesondere in der Pandemie mehr und mehr ins Wanken. Kitas und Schulen müssen aufgrund wiederkehrender COVID-Ausbrüche zeitweise schließen. Die Kinderbetreuung wird damit komplett nach Hause verlagert. Eltern müssen allerdings weiter arbeiten und nebenbei die Vollzeitkinderbetreuung stemmen. Diese Doppelbelastung bringt Familien an den Rand ihrer Belastungsgrenze und darüber hinaus. Die Pandemie zeigt, dass Onkel und Tanten, Großeltern, Nachbar*innen, Lebenspartner*innen und Freunden*innen die Sorgearbeit übernehmen und damit ebenso Teil von Familien sind. Klar wird: das Kümmern umeinander funktioniert vor allem durch vielfältige Beziehungen und ist nicht auf das Sorgerecht begrenzt. Die*Der beste Freund*in spielt zwei Stunden mit dem Kind, der Onkel kocht, und die Hausaufgaben werden zusammen bei der Nachbar*in erledigt. Mehrelternschaft, Patchwork- oder Regenbogenfamilien, in denen mehr als zwei Personen die Sorgearbeit übernehmen, sind kein Phänomen aus der Nische, sondern bereits vor der Pandemie Alltag in einem großen Teil der Bevölkerung.

Arbeitnehmer*innen thematisieren die Doppelbelastung in ihren Gewerkschaften und verschaffen sich so Gehör. Diese tragen die Forderung nach Anerkennung vielfältiger Familienmodelle in die Politik. Am 8. März 2022, dem internationalen feministischen Streiktag, gehen FLINTA-Personen weltweit auf die Straße. Schwerpunkt ist die Forderung nach Anerkennung für vielfältige Familienmodelle, welche auf einem der transnationalen digitalen Bewegungstreffen festgelegt wurde. Allein in Mexiko-City gehen trotz Pandemie 60.000 Menschen entsprechend der Abstandsregeln auf die Straße. Ebenso wird in vielen anderen Ländern weltweit protestiert. Die Medien berichten eindrücklich vom vielfältigen Protest und niemand kommt mehr an dem Thema vorbei.

Durch den Druck der Straße und den Arbeitnehmerverbänden erkennt die Politik, dass sie ihre Familienpolitik anpassen muss: In einem ersten Schritt wird die Beantragung von Kinderbetreuungsgeld erleichtert. So können die beste Freund*in oder der Vater unkompliziert Betreuungsgeld beantragen – ein erster wichtiger Schritt um finanzielle Mittel umzuverteilen. Daraus folgt, dass die Reproduktionsmedizin in den kommenden fünf Jahren Stück für Stück angepasst wird: Fruchtbarkeitsbehandlungen sind auch für unverheiratete, behinderte und queere Menschen möglich, ebenso für Frauen, die sich bewusst dafür entscheiden ohne Partner*in ein Kind zu bekommen.

Starke globale feministische Bewegung

Die Pandemie zeigt, wie wichtig eine global vernetzte Bewegung ist. In den kommenden Jahren wächst diese weltweit mehr und mehr zusammen. Digitale Vernetzungstreffen werden niederschwelliger, auch wenn noch nicht alle Menschen einen Zugang zum Internet haben. In den jährlichen globalen feministischen Vollversammlungen stehen die Stimmen von jungen Feminist*innen, vor allem aus dem globalen Süden, im Zentrum. Die Bewegung formuliert in dem nächsten Jahrzehnt eine gemeinsame positive Vision von Freiheit, Selbstbestimmung und Freude, die die jeweiligen Kontexte anerkennt. Die Umverteilung von finanziellen Mitteln aus der Entwicklungszusammenarbeit stärken die globalen Netzwerke. Wie die Gelder verteilt werden, entscheiden ab 2040 nicht mehr die reichen Länder des globalen Nordens, sondern die Empfängerländer im Süden. Da die feministische Bewegung in dieser Zeit global stark gewachsen ist, hat sie einen großen Einfluss auf die Verteilung.

Legale, sichere und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche

In den vergangenen Jahrzehnten haben weltweit 50 Länder bereits ihr Abtreibungsgesetz liberalisiert.2 Größtenteils war das die Folge von massivem gesellschaftlichen Druck und dem langen Atem von feministischen Bewegungen. Der Erfolg, zuletzt 2020 in Argentinien, inspirierte viele feministische Bewegungen weltweit und stärkte ihre lokalen Kämpfe.3 Durch die globale Vernetzung werden Organisationsstrategien und Kampagnenwissen ausgetauscht. Den Forderungen schließen sich kritische Mediziner*innen, wie Doctors For Choice an, die eine Entkriminalisierung des Eingriffs fordern und mit einem globalen Generalstreik drohen. Da in vielen Ländern die Gesundheitsversorgung an ihre Grenzen stößt, ist der Politik viel daran gelegen, die Mediziner*innen von einem Streik abzuhalten. 2048 gibt es nur noch wenige Ländern, in denen Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert werden.

Feminist*innen sind eine starke Stimmen in den Medien

Begleitet werden diese gesellschaftlichen Veränderungen durch vielfältige feministische Stimmen in den sozialen Medien wie Instagram, Twitter oder TikTok. Dort, wo Internetzugang besteht, nutzen Feminist*innen die sozialen Medien, um ihre Forderungen in die Welt hinaus zu senden. Mit Videos werden vielfältige Lebensrealitäten mehr und mehr sichtbar. Journalist*innen greifen die Themen auf und tragen sie in ihre Berichterstattung.

Politischer und gesetzlicher Umbau am Beispiel Deutschlands

In Deutschland setzt sich Ende 2021 eine neue Regierung aus einer sozialdemokratischen, grünen und liberalen Koalition zusammen. Viele junge Feminist*innen sind in den Bundestag gewählt worden. So kommt es, dass im Koalitionsvertrag die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetz steht, welche das bisherige Transsexuellengesetz ersetzen soll. Inter*, trans* und nichtbinäre Menschen haben somit das Recht, dass ihr selbst definiertes Geschlecht ohne bürokratische oder medizinische Hürden offiziell anerkannt wird. In Argentinien gilt dies bereits seit 2012. Nachgezogen haben viele weitere Länder, wie Schweden, Norwegen, Kolumbien, Südaustralien, Malta und Taiwan. Diese Entwicklungen erhöhen den Druck auf andere Länder in den kommenden Jahren ihre Rechtsordnung anzupassen.

Mit der oben genannten Koalition wird ebenfalls das Abstammungs- und Adoptionsrecht in Deutschland reformiert, welches die Elternrechte von lesbischen und trans-Paaren stärkt. Bis 2024 werden die Maßnahmen und Gesetzesänderungen umgesetzt.

Kate Čabanová arbeitet im Konzeptwerk am Projekt „Zukunft für alle – gerecht. ökologisch. machbar.“

Charlotte Konzeptwerk

Charlotte Hitzfelder arbeitet im Konzeptwerk am Projekt „Zukunft für alle – gerecht. ökologisch. machbar.“

Die Vision ist in einem Fachgespräch mit folgenden Teilnehmer*innen entstanden:

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